Customizing oder, „Ich will Teil des Problems sein“

Ist das Customizing-Geschäftsmodell vieler Verlagssoftwarehäuser in Wahrheit Teil des Problems vieler Verlage? Behindert eine kurzfristige und auch kurzsichtige IT-Strategie kleinerer Verlage deren langfristiges Überleben?

Bisher waren für mich zwei erfolgversprechende Basis-Strategien erkennbar um einem Verlag eine nachhaltige Perspektive zu geben:
1. Wachsen, (um nahezu jeden Preis. Das Ziel: Alle Vorteile der Skalierung und Industrialisierung zu nutzen, zu der auch Standardsoftware gehört.
2. In die Nische. Nahe ran an die Leser/Kunden (flexibel, schnell, anpassungsfähig und Individuell), 
entweder mit Standardsoftware oder mehr oder weniger individualisierter Software. Beide Wege schienen mir plausibel.

Und ich sah mich bestätigt: Das Gros der großen Verlage wächst primär durch Zukäufe. Bei der Verlags-Software setzt man hier auf Standard-Anbieter​. Sie sollen mit Ihrer Standardsoftware individuelle Lösungen möglich machen., wenn sie „massentauglich“ sind.

Nach dem Rückzug von SAP mit IS Medien ​aus dem Medienmarkt,​ sehe ich aktuell eigentlich nur noch zwei ernstzunehmende​, international agierende ​Anbieter: Klopotek AG und knk Business Software AG. Auch auf Anbieterseite schreitet nach der Übernahme der Kumavision ​die Konsolidierung voran.

Die kleineren Verlage, Fachverlage ebenso wie Publikumsverlage, setzten entweder auch auf Standardanbieter in der Erwartung, von eben diesen Standards zu profitieren, oder sie suchen sich ein Angebot​ eines der kleineren, oft ​auf den ersten Blick ​günstigeren Individualanbieter aus.

Customizing als Geschäftsmodell.

War die Individualisierung (Customizing) von Standardsoftware jahrzehntelang ein gutes Geschäft für die Softwareanbieter, besteht deren Projektgeschäft heute primär aus Konfiguration, Schnittstellenanpassungen und Datenübernahmen. Funktionserweiterungen sind eher die Ausnahme. Das spricht nicht nur dafür, dass die Software einen hohen Reifegrad erreicht hat. Es zeigt auch eine zunehmende Vereinheitlichung der Prozesse auf  Kundenseite. Bei den kleinen Anbietern sieht das völlig anders aus. Sie singen fröhlich das Loblied auf ihre individuellen​ und hochzufriedenen Kunden. Den Kunden werden, wo immer möglich, alle Wünsche erfüllt und in Code gegossen. Und in der Tat: fragt man kleinere Verlage, dann sind diese oft sehr zufrieden mit Ihren flexiblen und kundenorientierten Softwarehäusern.

Schaut man hingegen genauer hin, sind gravierende Nebeneffekte unübersehbar.

  • Kleine Verlage partizipieren nicht kontinuierlich an Fortschritten der Branche, die sich in Form von Best-Practice-Erfahrungen im Code der Standardanbieter niederschlagen. Im Gegenteil, sie lassen ihre tradierten und individuellen Prozesse auch an Stellen in Code zementieren, über die die Zeit anderenorts längst hinweggegangen ist.
  • Organisationen gewöhnen sich daran, dass alle Entscheidungen schnell mal in Code gefasst werden, bei denen es auch eine einfache Organisationsanweisung getan hätte.
  • Kosten für die Wartung nehmen zu, und das nicht zuletzt auch deshalb, weil die Dienstleister am Ende die Prozesse der Verlage bald besser kennen als die Verlage selbst. Denn es findet nicht nur schleichender Know-how-Transfer auf die Dienstleisterseite statt, sondern oft auch ein Know-How-Verlust, z.B. weil Wissensträger in der IT outgesourced oder scheidende Mitarbeiter nicht mehr ersetzt werden.
  • Hochindividualisierte Alt-Systeme durch neue zu ersetzen​,​ wird umso riskanter und teurer, je größer der Individualisierungsanteil (vulgo: „Sonderlocken“) in der Software ist. Da wird das Migrationsrisiko plötzlich grö​ß​er als alle Vorteile einer neuen Software.
  • Individualsoftware, die kaum ersetzt werden kann, gleicht einem dauerhaften intravenösen Zugang der Anbieter an den Geldbeutel der Kunden.

Ein wichtiges Gespräch über das Geschäftsmodel

Auf der diesjährigen Buchmesse konnte ich viele Gespräche mit Entscheidern von deutschen Softwarehäusern führen. An dieser Stelle möchte ich einen Teil eines Gesprächs wiedergeben, das mich sehr nachdenklich machte. Gefragt, ob er sich mehr als Produkthersteller oder als Dienstleister sieht, antwortet der Geschäftsführer eines kleineren Software-Hauses: „Wir sind letztlich ein produktbasierter Dienstleister“. „Aber das bedeutet doch“, so mein Einwand, „dass Ihre Geschäft im Gegensatz zu dem eines Produktherstellers nicht skaliert. Sie können nur wachsen, wenn sie ausreichend qualifiziertes Personal haben und Personal ist knapp.“ „In der Tat, da haben wir Probleme“​,​gab mein Gesprächspartner zu.

Faktisch kann sein Unternehmen derzeit kaum neue Kunden zu bedienen, weil ihm die qualifizierten Leute fehlen. Das Geschäftsmodel führt dazu, dass Bestandskunden mit den Fingern trommeln, weil sie weitere Anpassungen erwarten oder dringend aus formalen Gründen benötigen​. Beim Thema Neukunden kann er über den Preis gegensteuern, aber bei den Bestandskunden geht das nicht. Auf meine Frage, ob er nun mit seinem Ansatz keine Standardsoftware, sondern Dienstleistung anzubieten, nicht viel mehr Teil des Problems als Teil der Lösung sei, antwortete er: „Ich will Teil des Problems sein!“

Die Customizing-Lösungen gleichen einer Sucht.

Was ist falsch daran, so könnte man sich fragen, wenn man einem Kunden gibt, wonach er verlangt und er dann glücklich ist? Und der Dienstleister auch. Die Antwort ist aus meiner Sicht völlig klar: Die Entscheider und Systemarchitekten in den Softwarehäusern sind Informatiker und Ingenieure. Sie kennen den Nutzen von Standards und Normen. Auch kennen sie die Nebenwirkungen ihrer Angebote und welche schädlichen Effekte sie für den Kunden ​in Ausnahmen ​haben könnten. Aber sie machen es trotzdem.

Soviel Standard wie möglich

Gerade zu Beginn neuer Entwicklungen und Technologi​en​ wird man immer Individualsoftware brauchen, das steht für mich außer Frage; aber eben nicht auf Dauer. Was unserer Branche für die Entwicklung zu einer überlebensfähigen Industrie fehlt, sind eine Vielzahl allgemein anerkannte Standards in allen Bereichen. Diese würden die Wettbewerbsfähigkeit der mittelständischen und kleinen Verlage verbessern helfen. Bei DIN-Normen klappt es in der übrigen Industrie ja auch. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Branche mehr Standards und mehr Standardsoftware braucht und nicht weniger.

Wenn die Medizin, mit der wir versuchen ein Problem zu lösen, nicht geeignet ist, müssen wir eine andere Medizin nehmen und ggf. sogar entgiftet werden. Die Dosis der falschen Customizing-Medizin zu erhöhen, kann die Lösung nicht sein.

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