Dieser Beitrag beleuchtet, warum langfristig an der Automatisierung des Automatisierbaren auch in der Publishing-Industrie nur die Holzwege vorbeiführen und welche Rolle KI in der Publishing Industrie einnehmen kann und muss.
Auf dem technologischen Spielfeld der Digitalisierung, dessen Eckpunkte mit buzz words wie „Big Data“, „Cloud Computing“, „Deep Learning“, „Automatisierung“ und „Virtual Reality“ abgesteckt sind, wird kein Thema mit mehr Ambivalenz betrachtet als künstliche Intelligenz (KI)
Zweck der Digitalisierung
In der Arbeitswelt werden in der Digitalisierung primär drei Richtungen verfolgt: Senkung direkter Kosten, Beschleunigung, Qualitätsverbesserung.
Vor diesem Hintergrund wird derzeit versucht, nicht nur manuelle Tätigkeiten des Menschen durch Roboter zu ersetzen, sondern auch menschliche Entscheidungen. Nach meiner Auffassung stehen wir heute an einem vergleichbaren Punkt wie zu der Zeit, als im 19. Jahrhundert die menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wurde. Heute beginnt das Zeitalter, in dem Maschinen menschliche Entscheidungen ersetzen.
Roboterjournalismus
Die Vorboten sind längst angekommen. Schon heute arbeiten Tageszeitungsverlage mit automatisierten Texten. Datenbasierter Roboterjournalismus wird in der Sport- und Wirtschaftsberichterstattung einen festen Platz bekommen. Letztlich handelt es sich hier um die Umsetzung eines vergleichsweise einfachen, regelbasierten Konzepts. Vgl. auch Steffen Meier „Do Androids Dream of Electric Literatue? Datenbasiertes Publizieren und schreibende Algorithmen“, digital publishing report, Ausgabe 3/2016.
Big Data
Ähnlich verhält es sich auch mit komplexen Big Data-Anwendungen zur Vorhersage von User-Zuspruch wie bei Netflix oder Inkitt.com.
Die Leseplattform Inkitt versucht anhand von durch „predictive data analysis“ verarbeiteten Nutzerdaten ihrer kleinen Lesergruppen Vorhersagen über den wirtschaftlichen Erfolg von Texten zu treffen. Dies geschieht analog zu Fokusgruppen und teilnehmender Beobachtung in der traditionellen Marktforschung, aber mit allen vorhandenen Nutzern.
Wirksamkeit ist kein Intelligenznachweis
Beide Beispiele haben, wie viele andere digitale Anwendungen auch, ihre Berechtigung und werden zu spannenden Ergebnissen führen. Ihre Wirksamkeit ist aber kein Nachweis von Intelligenz. Ein Faustkeil ist auch wirksam, aber als intelligente Waffe wird ihn dennoch niemand ernsthaft bezeichnen.
Aufgabe von KI
Bei der künstlichen Intelligenz geht es darum, mit dem Mittel der angewandten Mathematik die Denk-Ergebnisse/Entscheidungen von Menschen zu imitieren und in Handlungen umsetzbar zu machen. KI entsteht also erst durch das Zusammenspiel von Mathematisierung, Mustererkennung (optional), Aktion und Anpassung.
Bausteine der KI
- Mathematisierung
- Optional: Erkennung von Ähnlichkeiten (Sortierung bzw. Clusterbildung)
- Training der KI-Entscheidungen
- Anwendung der KI-Entscheidung
- Ewiges Lernen
Mathematisierung
Aus Ausgangsinformationen (in Form von Bildern, Daten, Texten, Scorings oder Tönen) und – wenn verfügbar – den dazu getroffenen Entscheidungen (beispielsweise der Betrag der Kürzung einer Kfz-Reparaturrechnung durch eine Versicherung) wird ein mathematischer Fingerabdruck erzeugt. Dieser Fingerabdruck beschreibt das Material bzw. den Input, den ein Mensch zur Erledigung der Arbeit ebenfalls betrachtet.
Der Fingerabdruck repräsentiert diese Inhalte, ist aber für Nichtmathematiker nicht lesbar. Für jedes neue Ausgangsmaterial müssen die Mathematiker erneut prüfen, mit welchen Methoden und Formeln die Fingerabdrücke für den jeweiligen Fall erzeugt werden. Beispielsweise sind die Methoden für Verwaltungsentscheidungen andere als jene zur Erzeugung von Fingerabdrücken aus Fotos von Hautkrankheiten.
Mustererzeugung (optional)
Dieser Schritt ist notwendig, falls zu einem Vorgang keine menschliche Entscheidung verfügbar ist oder in der Vergangenheit erratisch gearbeitet wurde, so dass sich in den Entscheidungen kein Muster widerspiegelt.
Nach der Erzeugung des individuellen mathematischen Fingerabdrucks werden die Entscheidungen nach Ähnlichkeit sortiert (geclustert). Für ein Muster wird dann von Menschen eine Entscheidung festgelegt, die bei diesem Muster in Zukunft getroffen werden soll.
Training und Anwendung der KI-Entscheidung
Die KI-Entscheidung bildet den Zusammenhang zwischen mathematischem Fingerabdruck und menschlicher Entscheidung ab. Beim Training wird dieser Zusammenhang der Maschine beigebracht – das Ergebnis dieses Trainingsvorgangs sind mathematische Gleichungen, die den Zusammenhang abbilden. Nun kann der abgebildete Zusammenhang auf neue Fälle angewendet werden. Diese werden dafür als mathematischer Fingerabdruck gespeichert und dann in die Gleichungen eingesetzt. Das Ergebnis wird dann berechnet.
Ewiges Lernen
Ändert sich der Zusammenhang zwischen Fingerabdruck und Entscheidung, kann dies dem Automaten mitgeteilt werden und er lernt das dann. Ein bekanntes Beispiel ist ein Spam-Filter, der, wenn man ihm mitteilt, eine bestimmte E-Mail sei doch kein Spam, ähnliche E-Mails in Zukunft nicht mehr im Spam-Ordern einsortiert, sondern im Postfach anzeigt.
KI ist eine Teilmenge des menschlichen Entscheidungsrepertoires. Damit wird auch deutlich, was künstliche Intelligenz nicht leistet: Künstliche Intelligenz kennt keinen freien Willen, keine Emotion und damit auch keine Intuition. KI-Automaten können nicht frei assoziieren und – das ist wohl das Wichtigste – KI kann nicht selbständig moralisch entscheiden. Das bedeutet nicht, dass KI völlig unmoralisch wäre. Der Automat übernimmt die Moral der Menschen und ihrer Entscheidungen, die zur Grundlage seiner Entscheidungen wurden. Aber frei entscheiden zwischen Wertvorstellungen kann KI nicht.
90% Automatisierung sind ein Fortschritt
KI-Prozesse sind heute oft noch nicht durchgängig zu 100 % automatisiert. Vielen Unternehmen reicht es derzeit völlig, wenn bei einem Stapel Aufgaben zunächst nur 90 % der Fälle automatisch erledigt werden. Die letzten 10% bearbeiten die besten Spezialisten, welche mit ihren Entscheidungen wieder den Automaten „füttern“ und damit verbessern.
Dieses Zusammenspiel von Mensch und Maschine beschreibt auch der Economist in einem aktuellen Artikel zum Einsatz von Computern für Spionagezwecke:
„When machines are so powerful, where do people fit in? … Most valuable of all is the human ability to bring judgement and context.”
Beim Auftreten neuer Fragestellungen oder unvorhergesehener Ereignisse spielt der Mensch seine Überlegenheit aus. Bei der Wiederholung des ewig Gleichen ist uns die Maschine haushoch überlegen.
Bedingungen damit Entscheidungsprozesse, durch KI abgebildet werden können:
- hohe Fallzahl (Input)
- Alle relevanten Informationen können digital verarbeitet werden (Datenbasis digital)
- Geringe Anzahl von Entscheidungsvarianten (Output gering)
Das selbststeuernde Google-Auto
Das populärste Beispiel sind die selbstfahrenden Autos. Letztlich wird hier ein komplexes System von Inputinformationen mathematisch kodiert und in Befehle für vergleichsweise einfache Reaktionsmuster übertragen. Im Fall des Google-Autos wird angeblich das Fahrverhalten eines Clusters von Mitte-40-jährigen Autofahrerinnen nachgeahmt. Diese Gruppe gilt als das sicherste und damit beste Autofahrercluster. Stellen wir uns vor, die Bezugsgröße wäre das Verhaltenscluster von 19-jährigen jungen Männern vom Land. Da ist es dann auch beruhigend, dass die KI nicht die Wahl hat, wie ein 19-Jähriger oder eine betrunkene 45-Jährige.
Viel besser geeignet als Autos sind jedoch Züge. Zum einen sind die externen Variablen überschaubar, zum anderen bestehen die Output-Funktionen des Lokführers letztlich nur aus Gas geben und Bremsen. Deswegen gibt es schon seit Langem selbstfahrende U-Bahnen.
KI zielt auf die ganze Torte und nicht nur auf ein Schnittchen
Die Einsatzmöglichkeiten von KI werden keineswegs nur auf Produktionsprozesse beschränkt bleiben. Betroffen sind künftig auch Administration, Lektorate, Vertrieb oder Marketing, denn auch hier werden laufend Entscheidungen getroffen, und nicht nur in der jeweiligen Sach-Bearbeitung.
Qualifikation schützt nicht vor Automation
Viele Entscheidungs-Aufgaben setzen Erfahrungen und ein hohes Fachwissen bis hin zum Studium voraus. Sie sind daher schwer auf mehrere Menschen zu verteilen, was den Durchsatz mindert. Die Ergebnisse sind außerdem anfällig für individuelle Fehler und unterliegen auch qualitativen Schwankungen. Hinzu kommt, dass es fast unmöglich ist, Muster oder inhaltliche Zusammenhänge zwischen Aufgaben zu erkennen, wenn die Arbeit auf mehrere Personen verteilt wird.
Schon heute ist klar, dass KI insbesondere bei der medizinischen Diagnose, aber auch der Fallbewertung durch Juristen, in der Verwaltung, bei Banken oder bei Versicherungen einen Großteil der Arbeit übernehmen können wird. Versicherungen liegen nicht zufällig ganz weit vorne, wenn es um den Einsatz von KI-Technologien geht.
Outsourcing war nur ein erster Schritt zur Automatisierung
Auch im Publishing wurden viele Aufgaben als optimierungsbedürftig erkannt und daher oft outgesourct. So konnten zwar die Kosten gesenkt, die qualitativen und inhaltlichen Fragen aber meist nicht gelöst werden. Zu den Standardisierungsvoraussetzungen für die Potentialhebung hat Michaela Philipzen einen lesenswerten Artikel geschrieben.
An dieser Stelle wird auch verständlich, warum in vielen Branchen intensiv daran gearbeitet wird, fremdvergebene Aufgaben, die zwischenzeitlich anderenorts durch viele billige und qualifizierte Arbeitskräfte bearbeitet wurden, künftig durch Automaten erledigen zu lassen.
Welche Prozesse innerhalb des Publishings sind KI-verdächtig?
- Copy-Editing
- (teil-) automatisierte Erfassung von Informationen und Metataten für Datenbanken
- Analyse und Aktualisierung bestehender Datenbanken (z.B. Urteils- und Gesetzesdatenbanken)
- Automatisierte Identifikation und Qualitätssicherung von Bildern, zum Beispiel für medizinische (Differenzial-) Diagnosen, Schädlingsbefall in der Landwirtschaft oder technische Schadensfälle
- Vorab-Bewertung unverlangt eingesandter Manuskripte in den Bereichen Literatur oder Kinderbuch
- Aktive Preismodellierung bei Onlineshops
- Kundenpotentialanalysen im Anzeigenverkauf
- Einkauf in stationären Buchhandel
- Bewertung von Lizenzen im Einkauf
- Vor-Auswahl von Illustrationen
- Aktive Lösungsunterstützung der menschlichen Agenten einer Service-Hotline
Warum wir nicht die Wahl haben, KI nicht einzusetzen
KI bietet bereits heute viele Möglichkeiten. Diejenigen, die sie nutzen können, werden, wie wir gezeigt haben, nicht nur Kostenvorteile realisieren.
Noch mag der Einsatz von KI nicht in allen Fällen wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, aber direkte Kosten sind nur ein Argument für den Einsatz von KI. In Zeiten von annähernder Vollbeschäftigung und rückläufigen Bevölkerungszahlen kann nicht davon ausgegangen werden, dass stets genügend qualifizierte Arbeitskräfte verfügbar sind. Auch die Know-how-Träger der geburtenstarken Jahrgänge bereiten sich geistig bereits auf die Rente vor. Wer wird die heutigen Aufgaben in Zukunft übernehmen?
Zugegeben: Die Vorauswahl eines Romans durch eine Maschine ist emotional sicher nicht erstrebenswert und ein Franz Kafka wird so wohl nicht entdeckt werden. Andererseits: Welcher Verlag hat in den vergangenen Jahren schon einen Kafka entdeckt und wie viele Verlage haben Harry Potter abgelehnt? In diesem Fall wäre die Aufgabe eines KI-Automaten nicht, besser zu sein als einzelne geniale Lektorinnen, sondern Harry Potter zuverlässig, billiger und schneller abzulehnen als die meisten Menschen, die das Manuskript in den Händen hatten.
Dieser Artikel ist auch in Heft 4 des Digital Publishing Report erschienen (S. 12-15), das Sie hier als PDF herunterladen können.